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Inhalt:

 

- Licht im November

- Krüger I

- Im Angesicht landender 
   Flugzeuge

- Die Fau in Brüssel

- Ein Kind für die Ewigkeit

- Die Chinesen

- Das Wunder in der Rue Brézin

- Die Klage des Gesuchten

- Das Abbild

- Junge Männer Zürich 1982

- Natur und Luxus

- Der bellend ohrenbetäubende

   Sammler

- Der Machbarkeitsredner
   (I – III)

- Krüger II

- Lilli

- La Madame à la Marquise

- Erfüllte Morde

 

144 Seiten
Paperback
ISBN 978-3-940259-08-0
EURO 11,90
erscheint am 23.08.08

 

Siebzehn Geschichten, angesiedelt in der Grauzone zwischen kalifornischen Hunden und namibischen Pavianen; in ihrer Lakonie vollständig unvollständig, mit einem Menschenpersonal, das sich mörderisch voyeuristisch, aber auch mit wohlgesinnter Ironie und irritierend unmoralisch in Szene setzt. Und auf dem Grund dieser Geschichten sitzt die Angst. Die Angst sterben zu müssen. Die Angst vor dem Tod. Oder vielmehr die Angst, unermesslich machtvoll zu sein. Es sind Geschichten von Opfern und Verlierern, Verweigerern und Resignierten, Mördern und Mitwissern. Der Leser begegnet einem Scharfrichter, der in geheimnisvoller Mission unterwegs ist oder dem Liquidator seiner eigenen Mutter oder jener Episode des Wundertäters aus der Rue Brézin. Leser dieser Geschichten könnten auf den Gedanken kommen: Auch Mörder leben erfüllt.

 

Martin A. Obrecht, geboren 1960 in Zürich, war Bankkaufmann, Schauspieler und Schauspiellehrer. Er arbeitet als Coach und Kommunikationstrainer für Privat- und Firmenkunden in Stuttgart. Erfüllte Morde ist sein erstes Buch.

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Der bellend ohrenbetäubende Sammler

 

 

Unsre Geschichte stirbt in Schweigen hin.
Leb wohl, verrückte Welt!

Edgar Lee Masters

 

 

Lateinisch sagire, suchen, stellt eine Verwandtschaft her zu: wittern, spüren, ahnen.

Ursprünglich könnte sich die indogermanische Wurzel sag- („witternd nachspüren") auf den die Fährte aufnehmenden Jagdhund bezogen haben; eine Spur verfolgen. Womit wir die Arbeit des Spürhundes mit suchen – sich bemühen, etwas Verstecktes oder Verlorenes oder das Objekt der Jagd zu finden – in Zusammenhang brächten, und ohne Zweifel ist der Spürhund im übertragenen Sinn ein

Detektiv.

Falls Sie Detektive von Zeitungsausschnitten sein sollten, können Sie zu mir kommen. Allerdings sind Sie dann bald unter der Erde. Wobei Sie das vorher nicht, ich empfange Sie gerade mit einer entkorkten Flasche Bordeaux bester Auslese, vorher nicht wissen, natürlich nicht wissen können, höchstens spüren, wenn Sie den Duft des Weines, seine Blume, schmecken, riechen, in sich aufnehmen detektivisch, gleichsam, wie gesagt, als Spürender, Spürende.

Sie wissen es jetzt.

Und Sie kommen trotzdem. Das macht es erst spannend. Erregend. Sie kommen immer. Sie müssen. Sie brauchen den Spannungszauber.

Oder stellen Sie sich vor, Sie kommen nicht. Sie hätten den entscheidenden Zeitungsschnipsel nicht in Ihren Besitz gebracht. Sie wären dann nicht vollständig. Sie wissen sehr genau, dass Sie erst dann zu Tode kommen können, wenn Sie vollständig sind. Sie sterben erst, wenn Sie ganz sind und Ja sagen zum Leben. Vollkommen Ja sagen. Wenn ihr Leben rund geworden ist, der Kreis sich schließt. Eine unabdingbare Voraussetzung Ihres Sterbens ist das. Sie sterben Ihren individuellen, eigenen Tod. Undsoweiter. Ohne Zweifel. Das ist ein weites Feld.

Es ist das weite Feld der Menschen und Leute um Sie herum, das weite Feld der Zeitungsschnipsel um Sie herum und der Wohnungen und Räume um Sie herum. Ich habe einen unwiderstehlichen Drang in die Fenster anderer Leute zu schauen, in, anders gesagt: Lebenswohnungen und Todeshäuser einzudringen, vollkommen unabhängig von der herrschenden Witterung, Tages- oder Nachtzeit, einzudringen mit Blicken eines Hundes.

Und dann suche ich, spüre ich, spüre ich nach, spüre ich auf.

Das dürfte Sie leidlich befremden (oder auch nicht). Und Sie kommen, streicheln mir den Pelz.

Es ist ein Lebensgesetz, dass Sie kommen. Im Universum ist das so angeordnet. Ich wiederhole: Dass Sie kommen. Obwohl Sie es wissen, können Sie nichts dagegen machen. Ich werde Ihnen Wein trinkend den richtigen Zeitungsausschnitt überreichen. Ja? Es ist wirklich nicht schwer, der Tod ist anziehend. Und ich bin hündisch gut anziehend.

Sie kennen den Unterschied zwischen Furcht und Angst? Eines der Prinzipien des Geschichtenerzählens besteht darin, zu begreifen, dass wir alle in Angst leben. Das heißt, wenn Sie eine Geschichte schreiben oder ein Drehbuch verfassen oder einen Film drehen wollen: Reden, schreiben, filmen Sie über Angst, die Angst in uns Menschen, denn da sitzt sie.

Furcht ist, wenn Sie nicht wissen, was passieren wird. Angst ist, wenn Sie wissen, was passieren wird, und Sie nichts dagegen tun können.

Der Tod ist die ganz große Angst; wir alle leben in dem Bewusstsein, dass unsere Lebensuhr abläuft.

Als Beispiel belle, blecke ich Ihnen zwei Geschichten. Geschichten von Menschen, die zu mir kamen, um Zeitungssauschnitte zu suchen. Zunächst suchten sie nach anderen Nachrichten- oder Informationsteilchen, so zärtlich-finsterem Zeugs wie Warum Gehe Ich Mit Mir Selber Fremd oder Der Blaue Himmel In Den Zeiten Des Internets oder Wann Geht Der Menschheit Das Öl Aus oder An Welchem Ort Möchten Sie Am Liebsten Geküsst Werden: Am Strand Von Malibu, In Einem Hotelzimmer In Las Vegas, In Einem Zelt In Patagonien Oder Überall, Aber Nur Von James Oder Von Linda. Ohne die entscheidende Information zu finden. Genau in solchen Fällen komme ich, der Spürer, Schnüffler und Sammler, ins Spiel. Und mache Ordnung.

Dafür bin ich der Spezialist. Eine besonders für Sie eingerichtete Dienstleistung.

Habe ich Sie in Suchspannung versetzt?

Ich jaule Ihnen die Geschichte zweier Menschen, jene Vince VanRoiters und Dorothy McStarks – aus deren Perspektive.

Kurz und bündig. Wenige Sätze reichen aus.

Bevor wir starten erlauben Sie mir mit Ihnen gemeinsam die Herkunft des Wortes Erwartung zu untersuchen, indem wir Informationen über dieses Wort sammeln, und ich möchte, dass wir gelassen und aufmerksam sammeln. Wissen Sie, was Erwartung ist? Was erwarten Sie? Was erwarten Sie, wenn Sie morgens aufstehen? Was erwarten Sie, wenn Sie abends zu Bett gehen? Was erwarten Sie, wenn Sie den PC einschalten? Was erwarten Sie beim Überqueren der Straße? Was erwarten Sie beim Sex? Was erwarten Sie, wenn Sie Angst haben? Was erwarten Sie, wenn sie aus der Kirche austreten? Was haben Sie erwartet, als Sie getauft wurden? Was erwarten Sie, wenn Sie einem Affen begegnen (im Zoo)? Was erwarten Sie, wenn Sie erwarten, dass etwas passiert? Was hat Jesus am Kreuz erwartet? Was zum Beispiel haben Sie sich vom Kauf dieses Buches erwartet? Was erwarten Sie jetzt in diesem Moment von diesem Buch, wenn Sie das lesen, wenn Sie jetzt lesen Was zum Beispiel haben Sie sich vom Kauf dieses Buches erwartet und was erwarten sie jetzt in diesem Moment von diesem Buch oder von sich selbst oder vom Schreiber oder von den handelnden Personen oder von der Geschichte oder vom Leben, dem eigenen vielleicht?

Oder von was?

Was erwarten Sie, wenn Sie mich Gassi führen?

Was auch immer Sie erwarten. Es ist okay. Erwarten Sie es. Im Verb erwarten birgt sich warten drin. Warten ist von dem Hauptwort Warte abgeleitet. Eine Warte ist ein Ort der Ausschau. Das altgermanische Substantiv (mittelhochdeutsch) warte oder (althochdeutsch) warta: „Ausschauen, Lauern; Ausguck, Wachtturm". Warten bedeutet also eigentlich „Ausschau halten". Von einem Beobachtungsposten aus etwas in den Blick bekommen (ein Ding, eine Sache, ein Lebewesen, ein Mensch).Das veraltete englische Wort ward bedeutet zum Beispiel „Wache, Obhut, Verwahrung". Aus dem Altenglischen weardian können wir die Bedeutungen „warten, hüten; bewohnen" herauslesen. Heute bedeutet warten „Kommendem entgegensehen" (oder, ja, warten kann auch die Bedeutung von „etwas warten" annehmen, im Sinne von „etwas pflegen", oder: „auf etwas Acht haben", wovon Wörter wie „Wartung" oder „Wärter" hergeleitet sind). Erwarten: „einer Sache entgegensehen, etwas für wahrscheinlich halten", „etwas erhoffen, sich etwas versprechen". Wollen Sie den Tod erwarten, wollen Sie sich dem Tod versprechen, wollen Sie ihm entgegensehen? Wie auch immer, ob Sie das wollen oder nicht, der Tod hat sich Ihnen versprochen. Schon immer. Sie wissen es. Der Tod gibt Ihnen das Wort, dass Sie sterben. Wie übrigens auch das Leben Ihnen das Wort gibt. Der Tod hält Wort. Er ist integer. Er ist das Integerste, was Sie sich vorstellen können. Er erwartet Sie. Früher oder später.

Sie leben das Leben, das Sie gewählt haben. Und Sie wählen die Ängste, die Sie haben wollen, die Ängste, die Sie sich in Ihr Leben wählen, ungefähr so, wie wenn Sie sich in ein Netz (Telefonnetz, Internet) einwählen. Erwarten Sie also nicht, dass ich Sie nicht nicht einwählen lasse. Erwarten Sie nicht, dass Sie nicht nicht kommunizieren können. Sollten Sie Angst haben vor dem Sterben, dann ist das Ihre Sache, Ihr ganz persönliches Ding. Angst vor dem Sterben zu haben ist ziemlich zwecklos. Auf meinen Zeitungsschnipseln, die ich hüte vor dem Tor, steht im Grunde genommen immer dasselbe: Dass es zwecklos ist, Angst zu haben, dass Sie sterben werden. Sie können noch so sehr das Gegenteil warten und Ausschau halten nach dem ewigen Leben und warten darauf.

Lassen wir Dorothy und Vince selber sprechen, und macht es kurz ihr Hunde, Du, Vince, hast sechs Sätze, und Du, Dorothy, zehn:

Am zweiundzwanzigsten November kam es wie eine Erleuchtung über mich, Dorothy, Dorothy McStark, so heiß’ ich, wie eine Erleuchtung, sage ich Dir. Anders kann ich’s nicht nennen. Es war eine Erleuchtung, die meinen übergewichtigen Leib in nullkommanichts um mindestens vierzig Kilogramm erleichterte. So schwer hatte sich das, woran ich mangelte, in meinem Körper festgesetzt. Eine Stimme in mir sagte: Du bist nicht dankbar, Starkie, dass die vierzig Kilogramm weg sind (Starkie, so nennen mich meine Freunde).

Clear, mein Name ist Vince VanRoiters, clear (meine Freunde nennen mich Vincie). Und ich muss sagen, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Ich hörte vom Sammler, Spürer und Schnüffler auf Umwegen. Aber als er mir dann, nach all diesen Umwegen, die ich hier auslasse, was in seinem Sinne ist, als er mir dann meinen Zeitungsausschnitt zeigte und winselte, ich sei dieser Zeitungsausschnitt Ich Sehe Das Was Ich Sehe. Da hatte ich wie Starkie die Erleuchtung. Ich kann Dir sagen, dass ich weiß, dass das kläffend Perfide am Sammler natürlich darin besteht, dass er in Wirklichkeit der Tod und das Leben ist und Menschen sammelt, und alles was er will, ist, dass ich mich im Zustand der Erleuchtung nicht umbringe, was ich auch irgendwann tun werde, innerhalb der nächsten Monate oder ein, zwei Jahre, einzig und allein aus dem Grund heraus, dass ich dem Menschenaufspürer, diesem Hund, zustimme.

Weißt Du, Vincie, ich, Starkie, habe es genau so wie Du in DIE WIRKLICHKEIT meines Lebens geholt. Die Strategie der Zeitungsschnipsel ist nicht, dass ich meine Pfunde verliere unter der kalifornischen Sonne, sondern dass ich sie verliere ohne Angst zu haben, sie mir woanders wieder holen zu müssen. Ich werde sterben, indem ich immer weniger werde als Leib. Immer weniger. Und auf meinem Zeitungsausschnitt steht in der Tat etwas über Essstörungen, die mehr werden. Mehr. Immer mehr. Wau! Wau!